“Die Presse als Organisator”, Wandbild am Berliner Alexanderplatz, Willie Neubert, 1973
Nach der Idee des Transformativen Journalismus sollen sich Medienmacher:innen aktiv für den Wandel hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft einsetzen. Lorenz Matzat ordnet die Diskussion um das neue Journalismusphänomen ein.
Es gibt eine Vielzahl an Journalismen. Die Bestandsaufnahme von “X Journalism” listet über 100 davon auf. Manche beziehen sich auf eine konkrete Praxis, eine Gattung, eine Technologie oder Methode. Andere gehören zu den analytischen und konzeptionellen Journalismuskategorien. In diese Sparte fällt der Transformative Journalismus (TJ), den X-Journalism bislang noch nicht verzeichnet. Zwei medienwissenschaftliche Beiträge aus Deutschland versuchten ihn vergangenes Jahr zu umreißen. Sie stehen exemplarisch für die Bandbreite des Felds des Klimajournalismus, aber auch die aktuell zu beobachtende Suchbewegung zum Selbstverständnis des Genres, die 2020 einsetzte: Sie geschieht zwischen den zwei Polen, zwischen denen sich auch die Klimabewegung selbst, aber auch letztlich jede politische Bewegung befindet: Die Frage von Reformismus versus radikalen Wandel. So unterscheiden sich die beiden Texte in drei Dingen: Der Rolle des Journalismus selbst in der Transformation, denen dabei wesentlichen journalistischen Methoden sowie des Themenspektrums.
Beide Abhandlungen beziehen sich begrifflich auf einen umfassenden Report des Wissenschaftlichen Beirats für Umweltfragen der Bundesregierung (WGBU) von 2011 mit dem Titel “Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation”. Das Sprachbild selbst hatte der Wirtschaftswissenschaftler Karl Polyani 1944 geschaffen, der die Umwälzungen durch den Kapitalismus im Großbritannien des 19. Jahrhunderts in seinem Buch “The Great Transformation” untersuchte.
Der WGBU schrieb angesichts der Klimakrise: „Das Ausmaß des vor uns liegenden Übergangs ist kaum zu überschätzen und wird zu Recht als große Menschheitsherausforderung bezeichnet … die Transformation zur klimaverträglichen Gesellschaft [muss] innerhalb der planetarischen Leitplanken der Nachhaltigkeit und wesentlich schneller verlaufen. Sie ist zudem keineswegs ein Automatismus, sondern muss aus Einsicht, Umsicht und Voraussicht vorangetrieben werden, wenn sie in dem engen Zeitfenster gelingen soll, das zur Verfügung steht. Dies ist historisch einzigartig, denn die großen Transformationen der Vergangenheit waren Ergebnisse allmählichen evolutionären Wandels.”(S. 281).
Kein Thema. Dimensionen des Journalismus in der Klimakrise
Die große Lücke zwischen Klimawissen und Klimahandeln geht auch auf Journalist:innen zurück. Carel Mohn und Sven Egenter fordern deshalb eine neue Auseinandersetzung mit der journalistischen Disziplin.
Das höchste Ziel
“Transformative Journalisms: How the ecological crisis is transforming journalism.” So lautet der Titel des Aufsatzes der Medienwissenschaftler Michael Brüggemann, Jannis Frech und Torsten Schäfer. Sie sehen das neue Journalismusphänomen im Umwelt- und Nachhaltigkeitsjournalismus wurzelnd: Es sei ein thematisch festgelegter “Advocacy Journalismus”, der über das übliche Eintreten für punktuelle Anliegen hinausginge. Denn “transformative Journalist*innen treten für das höchste öffentliche Gut ein: Die Rettung des ökologischen Gleichgewichts des Planeten [transformative journalists advocate the ultimate public good of saving the ecological balance of the planet]”. Ein Ansatz also, der Pathos nicht scheut und explizit der Vorstellung von “Objektivität” im Journalismus eine Absage erteilt.
Die Drei schlagen vor, “transformative Journalismen als eine besondere Art progressiver Interessenvertretung zu entwerfen: Eine soziale Transformation in Richtung Nachhaltigkeit wird durch journalistische Arbeit befördert.” [We propose to conceptualize transformative journalisms as a particular kind of progressive advocacy: promoting social transformations towards sustainability by doing journalism.] Eng verwandt sei ihr Konzept mit der von Uwe Schneidewind et al. 2016 beschriebenen “Transformation Science”; eine Wissenschaft, die nicht nur beobachte und analysiere, sondern “eine aktive Rolle im Initiieren und Umsetzen von Wandlungsprozessen einnimmt [“takes an active role in initiating and catalyzing change processes].”
Vier Facetten des TJ beschreiben die drei Wissenschaftler, die den Journalismus selbst transformieren würden: Die Interaktion mit dem zur Community-werdenden Publikum sowie Akteuren im thematischen Feld; die Diskurse über das professionelle Rollenverständnis beim Advocacy Journalism; die eigentlichen journalistischen Inhalte in der Klimakrise, die eine Dimension (nicht Thema) darstelle sowie die Auswirkungen auf journalistische Arbeitskultur und Produktionsbedingungen.
Angesichts des Bezugs auf die Tranformationsmetapher von Polyani und der WGBU-Studie– beides Werke, die sich umfassend mit der Rolle des herrschenden Wirtschaftssytem befassen – ist es bemerkenswert, dass für die drei Autoren das Thema Wirtschaft keine herausragende Rolle spielt: Themen wie “De-Investment” oder “De-Growth” werden nur beiläufig erwähnt.
Die Presse als Organisator
Ganz anders im Text von Uwe Krüger, der auf die Jahrestagung des Netzwerks Kritische Kommunikationswissenschaften Ende 2019 zurückgeht. Er trägt den Titel “Geburtshelfer für öko-soziale Innovationen: Konstruktiver Journalismus als Entwicklungskommunikation für westlich-kapitalistische Gesellschaften in der Krise”. Gleich zu Beginn ist die Rede von Medienhäusern als Hüter “kapitalistischer Wachstums- und Ungleichheitsideologie“; von einer “nachkapitalistischen Gesellschaft”. Es wird deutlich: Krüger kann Gesellschaft nicht denken, ohne auf ihre Wirtschaftsweise einzugehen.
Der erste Satz seiner TJ-Arbeitsdefintion lautet: “Transformativer Journalismus ist eine Form der Berichterstattung, die Öffentlichkeit herstellt für Akteur*innen, Prozesse und Strukturen, die eine »Große Transformation» zur Nachhaltigkeit begünstigen, um sie durch Sichtbarkeit zu stärken und ihre weitere Verbreitung und Entwicklung zu ermöglichen.” Neben dem Stellenwert des Wirtschaftssystems wird hier der zweite Unterschied zu dem Ansatz von Brüggemann, Frech und Schäfer sichtbar. Während bei ihnen im TJ die Journalist*innen selbst als Avantgarde, als Change Maker fungieren und es um die den Wandel der Profession selbst geht, sieht Krüger die Rolle des TJ mehr als Stifter eines Diskurs- und Lösungsraums für andere Akteur*innen.
Der dritte Unterschied im TJ-Konzepte von Krüger sind die Methoden. Statt im Umwelt- und Naturjournalismus wurzelnd, sieht er Konstruktiven Journalismus und Entwicklungsjournalismus (Development Journalismus) als stilbildend. Letzterer ist wie der erste lösungsorientiert, legt aber auch Wert auf Zugänglichkeit für diejenigen außerhalb der (Bildungs-)Eliten und deren Ermächtigung.
Transformation und Wiederverortung in der Zwillingskrise
Artensterben und Klimanotstand fordern von Journalismus und dessen Theorie ein, sich Ort, Landschaft und Natur mit neuen Ethikkonzepten, Rollenbildern und Sprachgewohnheiten zu öffnen. Ein Essay von Torsten Schäfer.
Krüger erwähnt in diesem Zusammenhang die Vorstellung von Wladimir Lenins, der die Presse auch als “Organisator” verstand. Allerdings wäre das insgesamt totalitäre Verständnis zur Rolle des Journalismus in der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten kein Vorbild: “Jener wünschenswerte Umbau von Werten, Praktiken und Institutionen soll nicht nach einem Masterplan von oben oktroyiert werden, sondern ein »gesamtgesellschaftlicher Suchprozess« sein, an dem »alle gesellschaftlichen Akteure […] zu beteiligen sind« (WBGU 2011, 380), und der auf »Einsicht in die Notwendigkeit« (ebd., 341) setzt. Entsprechend bleibt ein Transformativer Journalismus, der hier (analog zu einer Transformativen Bildung und einer Transformativen Wissenschaft) als ein Berichterstattungsmuster unter mehreren konzeptualisiert wurde, ein autonomer Akteur, der zentrale journalistische Qualitätskriterien wie Unabhängigkeit, Kritik und Objektivität erfüllen soll.”
Theorie ohne Praxis
Beide Vorstellung vom TJ sind bislang theoretischer Natur. Das “Ende der von vielen journalistischen Profis kultivierten Arroganz gegenüber einem wissenschaftlichen Verständnis des Journalismus” ist nicht abzusehen. So bleibt die Frage, ob die Vorstellungen über einen TJ je weitflächig Einzug in die journalistische Praxis halten wird. Weil die Einsicht, dass eine “Großen Transformation” notwendig ist, um der Klimakrise zu begegnen, weiterhin eine Außenseiterposition ist. Eine Gesellschaft, die sich nicht grundsätzlich wandeln möchte, wird einem TJ wenig abgewinnen können.
Ob unter der Bezeichnung Transformativer Journalismus oder einer anderen: Tatsächlich könnte die journalistische Zunft in der Auseinandersetzung der Gesellschaft mit dem Umgang der Klimakrise eine bedeutende Rolle einnehmen: Denn der Diskurs über die Herangehensweise an den Wandel muss organisiert sowie Orientierung gesucht und gefunden werden. Vielleicht kann diese Rolle dann nicht mehr Journalismus genannt werden. Weil angesichts der drohenden Klimakatastrophen dessen ihn bestimmendes Bezugssystem aus Neutralität und Ausgewogenheit schlicht nicht mehr funktionieren kann.
Transparenzhinweis: Der Autor arbeitet sowohl mit Torsten Schäfer im Koordinierungskreis des Netzwerks Klimajournalismus Deutschland als auch mit Uwe Krüger in der Journalismusausbildung an der Uni Leipzig zusammen.
Lorenz Matzat
… leitete die Entwicklungsabteilung bei der Berliner NGO AlgorithmWatch, die er mitgründete. Er ist Teil des Koordnierungskreises des Netzwerks Klimajournalismus Deutschland und Gastprofessor an der Uni Leipzig.
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